Fokus Familie

Family Sweet & Sour

Bereits die Familie an sich ist eine «Geschichte»: Beim Anblick eines Familienportraits entstehen automatisch Geschichten im Kopf – nicht nur die der Figuren, sondern auch konkrete soziale oder psychologische Realitäten. In einem tieferen Sinne spielt die Familie auf eine universelle Erfahrung an und weckt Emotionen, die tief im Menschsein verwurzelt sind. Wir lachen über die steife Inszenierung einer Familie, werden aber gleichzeitig an den eigenen tiefen Schmerz oder an zerbrechliches Glück erinnert. Interessanterweise geben poetische Animationsfilme die Realität nicht verzerrt wieder – im Gegenteil: Sie stellen Verdichtungen und damit eine Verbindung zu unserer eigenen Lebenserfahrung dar – oftmals in nur zehn Minuten Dauer. Sie bringen die Dinge auf den Punkt ohne naturalistisch und psychodra- matisch zu sein. Es sind gerade die gezeichneten Bilder, die uns zu überlisten vermögen. Genau so können, ja müssen wir so etwas wie die Wahrheit erkennen, anders als bei photorealistischen Bildern.

Geschichten über Familien sind stets auch Geschichten über die persönliche Loslösung von den «Blutsbanden», über die Vorherbestimmung unseres Schicksals durch unsere Vorfahren oder schlicht durch die banale Langeweile zweier Personen, die sich gegenseitig überdrüssig geworden sind. Es ist einfach über Familienbande zu spre- chen, die von gefährlichen Fallen, eifersüchtigen Feen, archetypischen Tyranneien, Egoismus und Ignoranz geprägt sind; nichts davon ist neu. Bereits im Mittelalter waren Varianten der gemeinsame Elternschaft bekannt, wie etwa böse Stiefmütter, Väter, die nie zu Hause waren oder scheussliche Scheidungskämpfe. Seit Jahren wie- derholen wir also die Geschichte – geniessen die Kindheit, werden erwachsen, gründen eine Familie und lernen wiederum, wie man ein Kind grosszieht. Das, was uns antreibt, ist unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe, der Wunsch, die Zukunft in unseren Nachkommen zu sehen oder auch einfach der Einsamkeit des Lebens entfliehen zu können. Kein Wunder sind alle bisherigen Ansätze, das traditionelle Familienmodell zu revolutionieren, gescheitert.

Ein Programm aus Filmen mit Familienbezug zusammenzustellen, fordert eine sorgfältige Auswahl. Das Programm «Family Sweet & Sour» nimmt sich im sonst eher unkonventionellen, avantgardistischen und experimentierfreudigen Festival recht narrativ aus. Diese erzählerische Qualität ergibt sich logisch aus der melodramatischen oder poetischen Struktur des Themas. Persönlich interessierte es mich jedoch, die Familie aus einer unschuldigeren, poetischen Perspektive zu betrachten – weniger, das Soziale oder Emanzipierte in den Vordergrund zu stellen. Mich interessierte, wie dieses kleine Wunder «Familie» sich wie von selbst ergibt, trotz Vorurteilen und Klischees. Denn auch ich habe lange die Argumente gegen jene altmodische Form des Zusammenlebens geteilt – bevor ich geheiratet habe. Welches sind die magischen Momente der Mutterschaft? Wie fühlt es sich an, als Mann und Frau zusammen alt zu werden? Wenn man zu verstehen beginnt, dass die Kinder erwachsen werden und man sie gehen lassen muss? Ohne selbst ein solch «gewöhnliches» Schicksal erlebt zu haben, kann man es nicht wissen.

Der Programmteil «Family Sweet & Sour» ist in drei thematische Unterprogramme geordnet mit der Absicht, ähnliche Lebenserfahrung zu bündeln und zu einem Animationsfilmprogramm zu verschmelzen. (mp)

Kuratiert von Michal Procházka